Pelizaeus-Gymnasium Paderborn - Gierswall 2 - 33102 Paderborn - Telefon: (05251) 154 97 -49/50 - E-Mail: pelizaeus@paderborn.de

14.02.2012 14:21

Geschichte ganz aktuell - Zeitzeugenbefragung im Geschichts-LK

Erster Bericht:

Die Schülerinnen und Schüler des Geschichte Leistungskurses der Jahrgangsstufe 13 am Pelizaeus-Gymnasium in Paderborn führten am 11. Januar diesen Jahres eine Zeitzeugenbefragung an ihrer Schule durch. Frau Ursula Langer, geboren 1931 und Großmutter des Kursmitglieds Steffen Langer, war der Mittelpunkt des Unterrichts und stand den wissbegierigen Schüllrinnen und Schülern Rede und Antwort zu der Zeit des späten Nationalsozialismus, der direkten Nachkriegszeit und der frühen DDR.

Emotional und hautnah stellte sie dar, wie sie als 13-jähriges Mädchen mit ihrer Familie im Januar 1945 aus Beuthen (Oberschlesien, heutiges Polen) auf die Flucht ging, in der damaligen Tschechoslowakei bei einem Bauern für ihr Überleben und das ihrer Angehörigen gearbeitet hat und schließlich in der frühen Nachkriegszeit nach Deutschland zurückkehrte. Dieser Neubeginn in Deutschland lag in Potsdam und somit erst in der „Sowjetisch Besetzten Zone“ und ab 1949 in der DDR. Überraschend war an dieser Stelle, wie positiv Frau Langer ihre Geschichte empfand und wie viel Rücksicht sie auf diejenigen nahm, die den Krieg noch schlimmer erlebt hatten als sie.

Während ihrer DDR-Zeit machte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester und entdeckte bald ihre Liebe zu ihrem zukünftigen Ehemann Heinz Langer, den sie bereits von Kindestagen an kannte. 1953 ermöglichte dieser ihr die Ausreise in den Westen und baute mit ihr die „Bäckerei Langer“ in Hannover auf. Mit den Erzählungen aus den goldenen Jahren und einer lebhaften Gesprächsrunde mit den Schülern schloss Frau Langer ihren Unterrichtsbesuch ab.

Dieses praktische Projekt war Teil einer Unterrichtsreihe der Geschichtslehrerin Renate Kortmann-Fröhleke, die den Abiturienten „Geschichte zum Anfassen“ nahelegt. Dies sei besonders wichtig in einer Zeit, in der es nur noch wenige Zeitzeugen aus dieser Zeit gibt, so Kortmann-Fröhleke. Ebenso sah dies die Zeitzeugin Frau Langer: „Es ist einfach wichtig, dass die jungen Leute von heute wissen, wie es damals war.“

Mit einem Blumenstrauß und Pralinen bedankte sich der gesamte Kurs für dieses einprägsame und aufschlussreiche Ereignis.

Schüler Steffen Langer, Zeitzeugin Ursula Langer und Lehrerin Renate Kortmann-Fröhleke (v. l. n. r.)

(Text und Bild: Steffen Langer)

 

Zweiter Bericht: 

Heutzutage thematisieren viele Bücher und Reportagen die Ereignisse und Gräueltaten des Nationalsozialismus. Obwohl wir uns als 13er Geschichts-Lkler bereits durch verschiedenste Quellen ein weites Bild von dieser Zeit machen konnten, waren wir alle gespannt auf den Besuch von Frau  T. , der Großmutter eines Kursmitglieds.  Sie wurde 1933 am Niederrhein geboren und hat somit diese Zeit hautnah miterlebt.

So eine Zeitzeugenbefragung war nicht nur etwas Neues für uns, sondern gab uns auch, im Gegensatz zu vielen schriftlichen Quellen, einen viel emotionaleren Zugang zum Zeitgeschehen.

Frau T. begann von ihrer Kindheit zu berichten. Sie könne sich genau daran erinnern, wie ab 1938 Soldaten in ihrem Dorf einquartiert  wurden. Ein Trupp schaute in den Häusern, ob ein unbewohntes Zimmer vorhanden war. Wenn das der Fall war,

wurde dort ein Soldat einquartiert. Im Gegensatz zu den Erwachsenen freuten sich die Kinder über die neuen Gesichter.

Im gleichen Jahr wurde Frau T. in die Volksschule eingeschult.

Sie erinnerte sich an die harten und gewaltvollen Strafen, die einigen Kindern angetan wurden, die kilometerweit durch jahreszeitbedingte Dunkelheit, Regen und Schnee zu Fuß zur Schule gehen mussten und kalt gefroren und durchnässt unpünktlich zum Unterricht eintrafen.

Sie berichtete von allmorgendlichen Deutschlandliedern, die anstelle des sonst üblichen Morgengebetes stehend, mit der bekannten Armhaltung, im Chor gesungen werden mussten.

Eines Tages habe sich eine mutige Mitschülerin getraut zu fragen, warum man denn die Juden in der Gesellschaft diskriminiere. Der Lehrer habe darauf geantwortet, dass es die Juden gewesen seien, die Jesus ans Kreuz brachten und dass sie „dies nun davon hätten“.

Insgesamt sei das Leben unter dem NS-Regime von Angst geprägt gewesen: ein falsches Wort, auch unter Verwandten, hätte zur Denunzierung führen können. Frau T. erzählte uns auch davon, wie groß vor allem ihre Angst während des Bombenkrieges gewesen sei und dass sie, ihre Familie und Nachbarn nächtelang betend im Keller verbracht haben, neben sich die wichtigsten Dokumente wie Ausweise und Zeugnisse.

Ein besonderes Anliegen war es Frau T. uns die Geschichte der Familie Kahle nahezubringen.

Durch Zufall fiel ihr die Schrift „Was hätten Sie getan?“ der 1948 verstorbenen Marie Kahle in die Hände.

Marie Kahle und ihr Mann Paul, ein weltweit anerkannter Professor für Orientalistik, lebten mit ihren Kindern in Bonn, als sich die Reichsprogromnacht ereignete.

Marie Kahle hatte immer schon ein gutes Verhältnis zu den Menschen in der Nachbarschaft, worunter auch ansässige Juden waren und so sah sie es als Selbstverständlichkeit an,  einer alten   

jüdischen Nachbarin bei den Aufräumarbeiten ihres Geschäftes zu helfen. Ihr Wäschegeschäft war geplündert und zerstört worden. Während Frau Kahle und ihr Sohn Wilhelm dort halfen, wurden sie von einem Polizisten gesehen und eine Hetzjagd auf die Familie begann. Ihr „verräterisches“ Verhalten wurde Thema in der lokalen Zeitung und ihr studierender Sohn Wilhelm wurde der Universität verwiesen. Es folgten Repressalien für die ganze Familie. Die öffentlichen Demütigungen machten ein Leben in Bonn nicht mehr möglich. Schließlich gelang es der Familie unter hohem Risiko 1939 nach London zu emigrieren.

Frau T. erzählte uns, wie berührt sie von der Zivilcourage dieser Familie gewesen war.

Es entwickelte sich ein enger Briefkontakt zu Wilhelm Kahle, Pfarrer in der Westminster Kathedrale, London, einem der Söhne der Familie.

Frau T. ermutigte ihn, auch weitere Tagebuchaufzeichnungen seiner Mutter zu veröffentlichen, damit die Hilfsbereitschaft der Familie nicht in Vergessenheit gerate.

Ebenso schrieb ihr Mann an den Bundespräsidenten, um eine Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an Wilhelm Kahle zu erwirken.  1989 wurde Pastor Wilhelm Kahle das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse in der deutschen Botschaft in London verliehen.

Aus dem Briefkontakt sei eine Freundschaft geworden, sodass Wilhelm Kahle ihr  kurz vor seinem Tod 1993 seine eigenen und die Aufzeichnungen seiner Mutter vermachte, da er sich sicher gewesen sei, dass Frau T. diesen Dokumenten eine enorm große Wichtigkeit im Bezug auf das Nichtvergessen der deutschen Vergangenheit beimaß und mit der Intention, dass durch die Verbreitung dieser Berichte „so etwas nie wieder passiert“.

Frau T. leitete die Dokumente z.B. an einen Paderborner Redakteur weiter, der ein Buch über die Familie Kahle verfasste.

Die Stadt Bonn hat eine Straße und eine Schule nach Marie Kahle benannt. In der Universität hängt eine Gedenktafel für Prof. Paul Kahle.

Dem Sohn Wilhelm läge viel daran, wenn auch seiner gedacht würde, da er von der Uni verwiesen wurde und er in ganz Deutschland nicht mehr zum Studium zugelassen wurde.

Zum Schluss betonte sie, dass es vor allem im Andenken an Wilhelm Kahle wichtig sei, sein und das Schicksal seiner Familie bekannt zu machen und somit einen kleinen Beitrag zur Aufarbeitung der deutschen Geschichte zu leisten und sicherzugehen, dass rechte und rassistische Tendenzen in den Herzen der Menschen keinen Platz haben.

(Text: Teresa Ruberg)